Die Suche nach dem Schlüssel

RS_Die-Suche-nach-dem-Schluessel_w600_h479Die Verwandtschaft ist abgereist. Jeder hat etwas von der Erbschaft abbekommen. Das Haus ist leer. Ich gehe durch alle Räume, um zu sehen, ob nicht irgendwo etwas vergessen wurde. Nachdem ich mich vergewissert habe, unbeobachtet und ganz allein zu sein, öffne ich eine Wandverkleidung, ein mir vertrautes Geheimnis, und hole eine Schatulle hervor. In der allgemeinen Aufregung und Verwirrung konnte ich sie mir heimlich aneignen. Mit Lust betrachte und betaste ich sie von allen Seiten. Was wohl ihr Inhalt sein mag? Nun, gleich werde ich es wissen.

Mit Bedacht habe ich bisher meine Neugier gezügelt, um die prickelnde Spannung auf eine Überraschung recht lange zu genießen. Dass etwas sehr kostbares und wertvolles darin sein muss, weiß ich , seitdem ich Charlotte beobachtete, mit welch begierigen Blicken sie die Schatulle am ersten Tag der allgemeinen Besichtigung musterte und dabei etwas in ihr Notizbüchlein mit aufgeregt zitternder Hand notierte. Charlotte, studierte Kunstgeschichtlerin, hat sich auf historischen Schmuck spezialisiert. Ihr Gebaren hat die Begierde nach diesem Schatz in mir erweckt. Es gelang mir ohne große Mühe, ihn an mich zu nehmen, denn außer Charlotte zeigte niemand ein Interesse an diesem unscheinbaren, kleinen Möbelstück.

Nun halte ich also einen wertvollen Kunstschatz in den Händen und der Augenblick der Er-Öffnung ist gekommen.

Da wird mir bewusst , dass ich ja einen Schlüssel brauche, um an den Inhalt zu gelangen. Wie konnte ich diese wichtige Tatsache bisher unbeachtet gelassen haben? Ich fasse mich an den Kopf. Wo ist der Schlüssel? Wut über meine Unbedachtsamkeit überkommt mich. Meine Rechte ballt sich zur Faust und hämmert wild auf den Deckel, willst du wohl aufspringen! Nichts bewegt sich – was tun?

Ein plötzlicher Gedanke scheint die Lösung zu bringen. Charlotte weiß mehr. Sie muss den Schlüssel haben, da bin ich ganz sicher.

Wie fange ich es an, diesen von ihr zu bekommen? Charlotte wird jetzt ganz, ganz wichtig für mich. Die Schatulle und Charlotte wachsen in meiner Fantasie zu einer Einheit zusammen. Die Schatulle habe ich, nun muss ich zusehen, dass ich auch Charlotte in meine Hände bekomme.

Sie lebt allein, die kleine, unscheinbar und etwas schrullig wirkende Person. Ich werde ihr einen Besuch abstatten. Ich werde sie umschmeicheln und zutraulich machen. Ich bin jetzt ganz sicher, dass sie den Schlüssel versteck{hält. Was nützt ihr der? Die Schatulle hat sie nicht. Die ist in meinen Händen, die sie nicht mehr loslassen können. Was ich in den Händen halte, wird mir zum Schicksal. Und seinem Schicksal kann man nicht entgehen, das ist eine Gewissheit. Ich bin ganz erfasst von diesem Schicksalsglauben und muss mich ihm fügen, ihm zwanghaft folgen.

Von nun an ist mir mein Weg vorgeschrieben und indem mir das klar ist, werde ich ganz ruhig. Mein Herz schlägt wieder im Gleichmaß, denn ich weiß, dass mein Handeln von rechten Eingebungen gesteuert wird.

Charlotte muss ich erobern. Die große Liebe meines Lebens habe ich gefunden. Welch glücklicher Zustand, von Liebe erfüllt zu sein. Die Liebe ist doch das Größte im Leben, sie trägt mich in eine rosige Zukunft.

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Alle Rechte: RS

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